nmz - neue musikzeitung, 3/2012
Drama, Pathos, Grenzüberschreitung

Von Isabel Herzfeld

Spätestens seit dem Portraitkonzert von Steen-Andersen im Vorjahr ist klar, dass die visuelle Komponente des Musikmachens die Wahrnehmung mitbeeinflusst, dass sie auch als eigenständiger Anteil herausgelöst und weiterentwickelt werden kann. Kaum aber kann die Idee sensibler umgesetzt werden als von Sarah Nemtsov in ihrem inszenierten Zyklus „A long way away“. Texte von Walter Benjamin, Marcel Proust oder „musikalische Reaktionen“ auf Bilder nach Gedichten Mirko Bonnés liegen ihm zugrunde, ohne dass ein einziges Wort gesprochen oder gesungen wird. Die Musiker sind zwar einheitlich gekleidet, eine strenge, stille Farb- und Formgebung beherrscht die Bühne der Sophiensäle, doch spektakuläre Aktionen, selbst eine Vergrößerung der Klangerzeugung, gibt es nicht. Doch dass es um Erinnerungen geht teilt sich in jedem Ton mit, gestützt von Alltagsgeräuschen wie raschelndem Laub, das Klappern einer altmodischen Schreibmaschine, das Klirren eines auf den Boden geworfenen Schlüsselbundes. Wie Nemtsov das in ihren zarten Tupfen von präperiertem Klavier und Melodica, Harfe, Cembalo und Schlagzeug, Linien von Altflöte und Bassklarinette integriert ist grandios, zeugt von wachem Klangsinn gerade dadurch, dass es vollkommen natürlich wirkt. Dass sich in diesen Andeutungen Dramen ereignen können, glaubt man ihr sofort. Diese Uraufführung wird zur erfreulichen Entdeckung einer zeitgenössischen Komponistin, die aller „Historie“ des Festivals standzuhalten vermag.