Noethers-Kritiken.de , 27.01.2012
Nostalgie, durch den Wolf gedreht
Von Matthias Nöther

Wer das inszenierte Ultraschall-Konzert „A Long Way Away“ am Donnerstag in den Sophiensälen hörte, wurde daran erinnert, dass zeitgenössische Musik immer etwas mit Nostalgie zu tun hat. Wie bitte? Jawohl, vor allem für den Hörer. Denn der, ist er nicht bei allen Neue-Musik-Festivals dieser Erde ständig präsent, erlebt ein Stück Neue Musik immer auch als Selbstbefragung: Bin ich sentimental, wenn ich dort diese zwei Klarinetten als wohlklingenden Terzabstand wahrnehme? Bin ich reaktionär, wenn ich mich nach fünf Minuten Krachen und Quietschen begierig in zwei Takte wohlig warmes Harfen-Streicher-Bett fallen lasse?
Die junge Berliner Komponistin Sarah Nemtsov und ihre Regisseurin Anna Peschke scheinen in dem weitläufigen alten Ballsaal der Sophiensäle die Nostalgie als seelische Regung einmal auf eigene Faust zum Thema zu machen. Man hat den Eindruck, sie denken auf künstlerische Art über sie nach, machen Nostalgie aber weder – und das wäre dann das größte Verdienst hier – zum Trostpflaster noch zum bourgoisen Schreckgespenst. Schon im vorletzten Jahr stellte Sarah Nemtsov in Berlin einen musikalischen Kommentar zu Walter Benjamins Bändchen „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ vor. Benjamin erhob, indem er die Erinnerung an verlorene Klänge und Gerüche seismographisch präzise aufschrieb, die Nostalgie zu einer ungekannten literarischen Kunstform. Von Nemtsovs Benjamin-Paraphrase aus wird der Abend entwickelt: Peschke hat das bürgerliche Berliner Wohnzimmer der Benjaminschen Kindheit gesprengt und die Splitter des Inventars über den Raum verstreut. Die neun Musiker des Ensembles Adapter sitzen zwischen, in und auf Polsterstühlen, Eckschränken, Kaffeetischen. Die Musik gibt dem Hörer fast mehr Sicherheit als die Szenerie. Nemtsov denkt von dem dunklen Beginn von Flöte, Bassklarinette und tiefem Klavier an in klaren und gut nachvollziehbaren musikalischen Strukturen, die aber nicht so intensiv und konzentriert bleiben: In den folgenden Stücken wird die Aufmerksamkeit eher auf das Zusammenspiel von Musik und szenischer Aktion gelenkt, wobei auch Nemtsov den Zuschauer immer häufiger aus dem Gefühl der nostalgischen Geborgenheit reißt.

Brave Brummkreisel
Das geschieht spätestens, nachdem der Klarinettist Ingólfur Vilhjálmsson ein letztes Mal im Vordergrund der Bühne mit seinen circa sechs verschieden gestimmten kindlichen Brummkreiseln spielen durfte. Brummkreisel: suggestives musikalisch-szenisches Symbol für verklärte Kindheit. Sie kullern dann auch brav im Terzabstand aus. Ungemütlicher wird es, sobald das Wort in Sarah Nemtsovs aneinandergereihte Musikstücke eindringt: Vom literarischen Stoff her sind W. G. Sebalds vier Erzählungen „Die Ausgewanderten“, die Nemtsov ebenfalls vertont, sicherlich Antipoden zu Benjamins nostalgischen Erinnerungen an das Gefühl von Heimat und elterlicher Behütung. Worte, in verschiedener Form in die musikalische Konstruktion hineingesetzt, werden zum Anderen der Musik und scheinen zu Symbolen des Verlusts von Heimat und Geborgensein zu werden: das Klicken von Schreibmaschinen-Tasten, das Rufen einzelner Worte durch die Musiker, das Rauschen eines Radios. Stets und auf besondere Art aber sorgt der Schlagzeuger Matthias Engler mit einem bemerkenswerten rhythmischen Sinn für die Rückführung des Ganzen in Musik. Dabei ist sein Instrumentarium mit seinen kühlen Klängen für Nostalgie eigentlich das unempfänglichste.

Ein Schelm, der da nicht an Vergangenheit denkt
Auf den ersten Blick verliert sich das Thema Nostalgie im Verlauf der weiteren drei Stücke. Doch auch noch in Luftmacumba / Rio von 2011, worin Nemtsov den motorischen Rhythmus des Klaviers sowie musikalisch ungefilterte Geräusche (etwa einer riesigen wehenden Plastikplane im Hintergrund) die Oberhand gewinnen lässt, meldet sich die Violine von Emanuelle Bernard als etwas heisere Reminiszenz an eine weit entfernte, bürgerlich-spätromantische Vorzeit. Irgendwie bleibt das Thema doch anwesend. Denn in Nemtsovs „landsapes / desert“ (2010), einem „musikalischen Roadtrip durch Südost-Kalifornien“, meldet sich unversehens ein Cembalo. Ein Schelm, wer dabei nicht an Vergangenheit denkt. Der Rest der Truppe verabschiedet sich samt quietschender Klarinette und pfeifendem Cello-Flageolet in höchste Höhen. Was hier äußerst gekonnt gezeigt wird, ist nicht Vergangenheit, sondern die künstliche Maschinerie, die in anderen Stücken und Genres Nostalgie produziert. Wer wirklich nostalgisch werden wollte, müsste dann doch eher in solche Veranstaltungen gehen.