„Nein, in der Musik kann es viel Organisation oder Desorganisation geben – alles ist möglich. Ebenso wie es im Wald Bäume, Pilze, Vögel und alles was man sich wünscht gibt. Obwohl wir noch so viel organisieren und sogar die Organisierung vervielfachen können, würde das Ganze auf jeden Fall eine Desorganisation ergeben!“
(John Cage, Für die Vögel)

Die Komponistin Sarah Nemtsov über „Poker, Roulette“ (2012)
Musik in 52 Spielkarten für Schlagzeug solo

Auf Anregung von Anna Peschke schrieb ich eine flexible Musik für Schlagzeug solo, die sowohl in der Form, als auch inhaltlich und in der Wahl der Instrumente vielfältig auf die Thematik „Kasino“, Spielsucht, Spieltrieb etc. eingeht.
Die Form meiner Komposition „Poker, Roulette“ ist offen, aber nicht beliebig. Für die dreizehn verschiedenen Spielkarten (2 bis As) wählte ich je ein Schlagzeugsetting und komponierte jeweils vier kurze Stücke für dieses Setting – entsprechend der Spielfarben (Karo, Herz, Kreuz, Pik) insgesamt 52 Spielkarten. Die Anordnung der Teile wird vorher mittels eines Kartenspiels gefunden. Es gilt falsches „Texas Hold’em“, angelehnt an das gleichnamige Pokerspiel – mit vorgegebenen Regeln. Es entstehen so mehrere Kartensets, „Hands“, die entsprechend ihrem „Ranking“ geordnet werden. Eine Dramaturgie ergibt sich durch das aufsteigende Ranking der Hands: eine Art gesteuerter Zufall, die höheren Hands haben tendenziell eher höhere Spielkarten, wie auch Paare oder Drillinge. So entsteht eine gewisse Intensivierung, die aber nicht graduell fortschreitend ist bzw. sich nicht nur in eine Richtung vollzieht, sondern vielmehr gebrochen und undurchsichtig bleibt, in den musikalischen Abläufen gewissermaßen unvorhersehbar. Die Brüche und Abgründe sind wichtig, Verwerfungen, aber auch das Wieder-Anknüpfen. Immer wieder taucht etwa dasFallenlassen von Gegenständen auf (klanglich und szenisch zugleich gedacht).
Loops und fehlerhafte Wiederholungen spielen eine große Rolle – und durchaus als Chiffre für Spielsucht, Zwanghaftigkeit, Obsession aufzufassen. Demgegenüber steht die Offenheit, das kindlich Spielhafte (der positive Spieltrieb sozusagen), Phantasie, Kreativität und Freiheit.
Das Schlagzeuginstrumentarium beherbergt eher klassische Instrumente wie Timbales, TamTam oder Gong, aber auch ungewöhnlichere wie Metalltrommel, Metallstücke oder Streetdrums, außerdem Gegenstände aus dem Kasino-Umfeld: Roulette-Teller, Jetons, Würfelbecher u.a. Zusätzlich bat ich Anna Peschke, mehrere Schlagzeuginstrumente neu zu bauen: etwa Jetons-Chimes (ein Mobile aus Jetons) oder Geigen-Rasseln. Auch der Schauspieler taucht klanglich als eine Art „Gegenspieler“ auf. Klangaktionen des Schauspielers wurden gemeinsam mit und an Objekten von Anna Peschke entwickelt. Die Thematik (und Figur) „Paganini“ inspirierte Anna Peschke überdies zu ganz ‚eigen-artigen’ Geigenobjekten, die dann auch bespielt werden. Obwohl Theater und Musik zwei verschiedene Ebenen und Kunstformen sind, entsteht durch all das ein lebendiger Dialog, künstlerische Osmose.

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